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Codex Insecta
Grosseto, 2025

Eingeschnitten

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Nach Codex Eroticus (2022) folgt Codex Insecta von Cavaliere Blu alias Adrian Peter oder umgekehrt. Über eine Million Insektenarten beflügeln, bekäfern, bekriechen und bevölkern seit 400 Millionen Jahren unsere Welt. Insectum ist lateinisch und heisst eingeschnitten.

 

Wahrscheinlich werden uns die Insekten überleben, und wo von der Möglichkeit die Rede ist, dass der Mensch einmal verschwindet wie am Meeresufer ein Gesicht im Sand, wollen wir uns an den Aquarellbildern von Cavaliere Blu erfreuen. Eine skurrile Welt, in der alle Bedenken zurückgelassen werden. Er zeichnet und textet zwischen Comics und Manga. Zwischen Traum, Wahnsinn und Surrealismus. Zwischen Bosheit, Ketzerei und Witz. Eine Welt in der Raum und Zeit verschmelzen, oben und unten nicht mehr existieren. Ein bizarres, farbenprächtiges Panoptikum der menschlichen und tierischen Absurditäten. Codex Insecta eben.

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Ein Kodex aus purem Fleisch, der, wie in alten Kathedralen, bei gedämpftem Kerzenlicht in der Dunkelheit des Kirchenschiffs von Blatt zu Blatt schreitend gelesen wird. Genau dies möchte die Ausstellung von Adrian sein: ein beleuchtetes Manuskript, dessen riesige Seiten an den Wänden hängen. Kein Buch zum Schmökern, sondern eine Art architektonisches Gedicht, das wie ein riesengrosser Text durchstreift werden kann. Ein Text, den man aus der Distanz mit einem schwindelerregenden Blick auf das Gewimmel kleiner, traumhafter und fantastischer Figuren auf einmal betrachten kann. Dann aber muss man näher treten, um zu verweilen und die kostbaren Fragmente zu bestaunen: An den Wänden sind nun eine Vielzahl von Insekten erkennbar (wie sie überall an Mauern von alten, geheimnisvollen Räume zu sehen sind). Mit den Insekten können gleichzeitig die unverständlichen und nicht entzifferbaren deutschen Inschriften, die in den Werken von Adrian erneut auftauchen, entdeckt werden.

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Der Codex Eroticus von 2022 bildet ein wirres und verworrenes Durcheinander von Dämonen, Totenköpfen, prähistorischen Fischen, Phalli und Kreuzen. Der Codex Insecta von 2025, der sich an die gleichen Liebhaberinnen und Liebhaber der von Adrian geförderten Säkularreligion richtet, bewegt sich in perfekter chaotischer Kontinuität, steht aber im Vergleich zum Codex Eroticus für einen selektiveren und präziseren Kanon: deutlich weniger Phalli und viel mehr Insekten. Und immer und überall dieselben jungen, unscheinbaren und vollbusigen Frauenfiguren. Und hier die erste geheimnisvolle Enthüllung: Wir stammen nicht vom Affen ab, sondern von jenen weiblichen Wesen, die sich mit Insekten paarten. Aus diesem Grund sind wir zerbrechlich und gefährlich: Wie Insekten können wir zerquetscht werden, und wie Insekten haben wir die Fähigkeit zu schwingen, vibrieren, krabbeln und fliegen.

 

Ja, wir krabbeln und wir fliegen: Häufig krabbeln wir, doch wir schaffen es auch, zu fliegen, zumindest in unserer Fantasie. Und vielleicht wird jemand erwähnen, dass diese grossen Werke an den Wänden den Eindruck erwecken, in der Luft schweben zu können, und dass sie an die grossartigen künstlerischen Kompositionen Calders erinnern, mit figurativen Kernelementen, die durch unsichtbare Fäden verbunden und in der Leere hängend darauf warten, von einem leichten Windhauch zum Leben erweckt zu werden. Ein Karussell aus zerbrechlichen und üppigen, verspielten Opfern, die sich mit scheinbarer Leichtigkeit in einem Netz winden, das Zwänge, Leiden, die Vergeblichkeit der Befreiungsversuche und den Tod darstellt. Es geht um den Tod, doch ohne Hauch von Tragik. Denn souverän verbirgt sich in Adrians Werken die besondere Liturgie, die sich aus Ironie und schwerem, subversivem Sarkasmus speist. Der Koordinator und Gestalter von all dem ist in Wahrheit ein Geist, der in einem Zustand halluzinogener, surrealer Luzidität Monologe führt. Ein Surrealist, der Phalli an Fallschirmen malt. Die Surrealistinnen und Surrealisten waren seit jeher Meister des Spottes, des Hohns und der Belustigung, alles Werkzeuge, um Konventionen, Moral, künstlerische Normen und die rationalen Erwartungen der Gesellschaft zu erschüttern und zu unterwandern.

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Mit seinen Arbeiten weist Adrian alles von sich, was der Vorstellungskraft Grenzen setzt. Sein Schaffen ist der Versuch, den Traum, das Unbewusste und das Absurde zu feiern. Vielleicht dreht sich in Wahrheit alles nur um eine einzige Sache, nämlich um den makabren, provokativen, zynischen und verspottenden Humor. Denn Adrian weiss, dass Ironie nicht nur ein Mittel ist, um zu zerstören, provozieren und destabilisieren, sondern auch ein Werkzeug, um eine alternative Freiheit zu schaffen, die mit einem spielerischen und grenzüberschreitenden Geist zu versehen ist. Hier nun die Auswahl der Insekten. Eine Auswahl, die bei der Umsetzung dieses Kodex zwei Arten von Suggestionen hervorruft, die über die ästhetische Dimension hinausgehen: ein symbolisches und ein allegorisches Verstehen. Während die Interpretation des Symbols intuitiv und über die Gefühle erfolgt, erfordert die Interpretation der Allegorie eine intellektuelle Anstrengung. In Form einer symbolischen Umsetzung werden gemeinsame zeitgenössische Archetypen und Bilder eingesetzt: Wenn wir Insekten betrachten, werden oft beunruhigende, verstörende und abstossende Bilder der Vergangenheit in uns wach. Betrachten wir jedoch die «Go-Go-Girls», sind wir fasziniert und fühlen uns von ihnen angezogen. Denn Erotik erregt und fasziniert, während Insekten abschreckend wirken. Beim Anblick von Insekten und halbnackten Frauen, die sich paaren, drängt sich das Bild eines «entomologischen Fetischs» geradezu auf. Der Codex Insecta ist somit eine vom Wahnsinn ergriffene entomologische Perversion.

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Adrians Insekten bilden nicht nur den Vorgeschmack auf eine fremdartige, geheimnisvolle und verstörende Ästhetik, sondern vor allem auch auf eine von Fetischen geprägte Ikonosphäre. Zum einen stossen wir auf die Analogie der Formen: Der glatte, glänzende und schillernde Panzer, die dünnen Beine und die Facettenaugen mancher Insekten rufen Assoziationen hervor, die in Fetischkleidung und -accessoires wie Latex, glänzendem Leder, Riemen und hohen Absätzen ihren Ausdruck finden können. Zum anderen erinnern uns Insekten an die Symbolik der Unterwerfung: Einige finden die Vorstellung, von der Natur «beherrscht» oder gar als verletzlich und minderwertig wahrgenommen zu werden, aufregend. Diese Furcht oder dieser Ekel kann sich durch das Überschreiten von Grenzen in eine Art erotische Erregung umwandeln. Eine erotische Transgression, die in weiblichen Figuren ihren Höhepunkt findet, die nicht selten an den Handgelenken gefesselt, gekreuzigt, gefoltert, seziert und zerstückelt werden. Manchmal werden sie aber mit den «Königinnen» der Insekten identifiziert, den befruchtungsfähigen und fortpflanzungsfähigen Weibchen eines Insektenstaates. Die Königin ist grösser als die übrigen Artverwandten und entwickelt sich aus speziell gefütterten Larven, um geschlechtsreif zu werden. Transgression hat auch mit dem Konzept der Metamorphose zu tun: Einige Insekten, beispielsweise Schmetterlinge und Käfer, durchlaufen Phasen der Transformation, die uns möglicherweise an Veränderung, Tod und Wiedergeburt erinnern. Manche wechseln gar ihr Geschlecht. Die Verwirrung und die Kluft zwischen den Geschlechtern gibt auch Anstoss zum verführerischen Konzept des «Body Horror», bei dem eine Ästhetik geschaffen wird, die sich um die Erforschung der Verschmelzung von Mensch und Insekt dreht.

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Bei der allegorischen Umsetzung ist, im Gegensatz zur symbolischen, das Verständnis der Titel, die Adrian seinen Werken verliehen hat, entscheidend. Dies gilt ebenso für das Verständnis der darin enthaltenen Texte. Der Titel «Zoomorphina» ist wunderschön und erhellend, denn er kombiniert und durchmischt die Begriffe «zoomorph» und «Morphium» und weckt so Assoziationen von Schmerzmitteln, die zwar Unbehagen und Ängste zu lindern vermögen, aber auch süchtig machen können. In den Texten – die zuweilen in einer Sprache verfasst sind, die es nicht wirklich gibt – kommen auch die obszöne und Gewalt verwendende Poesie von Till Lindemann, der Geschichtsschreiber Eusebius und die japanischen «Futanari» mit all den zwitterartigen Andeutungen des pornografischen Genres «Hentai» vor.

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Weiter gibt es Passagen aus «In der Strafkolonie», einer Kurzgeschichte, die im Oktober 1914 von Franz Kafka, dem – nicht ohne Grund – berühmten Autor von «Die Verwandlung», geschrieben wurde. In dieser Erzählung wird eine einzigartige Maschine, die tötet, als Metapher für die Literatur und als Sinnbild für die Kunst beschrieben, die imstande ist, mithilfe der Schmerzen und Zweideutigkeiten des Wissens zu quälen. Eine Maschine, die Eigenschaften selbstzerstörerischer Macht und die Ansätze von Gerechtigkeit, die Ungerechtigkeit erzeugt, hat – die geheimnisvolle Ordnung von Gesetz und Zeit. Im Werk «Femme libellule» ist der Text von Flypaper, einer Kurzgeschichte von Robert Musil, in der der grausame Tod von Insekten auf Fliegenpapier geschildert wird, enthalten. Und schliesslich ist da noch «Smile», ein symbolträchtiges Werk. Adrian selbst erklärt dies so: «Marquis Posa sagt im 10. Akt von Don Carlos: ‹Sire, geben Sie Gedankenfreiheit!› Und dies ist die perfekte Erklärung meiner Kunst. Seid frei und habt Spass. Das Leben ist viel zu kurz, um es ernst zu nehmen.»

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MAURO PAPA
Direktor, Polo Culturale Le Clarisse, Grosseto

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„‚Codex Insecta‘ aus Adrians Perspektive“

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