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Codex Eroticus
Grosseto, 2022

Gotische Grotesken und Junggesellenmaschinen

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    Hundert Jahre sind vergangen seit der Kreation der «Junggesellenmaschinen», wie Marcel Duchamp den unteren Teil seines heute im Museum von Philadelphia ausgestellten Grand Verre: La mariée mise à nu par ses célibataires nannte. Es freut uns ausserordentlich, nun im Museo delle Clarisse ein weiteres Werk ausstellen zu dürfen, das sezierte Körper und feinmotorische, unmögliche und wahnhafte Bewegungen zeigt.

 

Wir erachten es als gebührende Wertschätzung und schöne Provokation, unter anderem, weil der Autor dieser bekritzelten und kolorierten grossen Blätter – Adrian Peter – wie Duchamp ein sardonischer und kosmopolitischer Kreativer ist. Ausserdem stammt er aus der Schweiz, wo bekanntlich 1916 Dada seinen Anfang nahm.

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Und dadaistisch sind auch die «Junggesellenmaschinen». Im Anti-Ödipus (1972) behaupteten Deleuze und Guattari, die zu einem literarischen und bildhaften Gemeinplatz gewordenen «Junggesellenmaschinen» würden durch zwei entgegengesetzte Kräfte – Abstossung und Anziehung – «intensive Mengen» von Energie freisetzen. Oder genauer gesagt durch Gegenüberstellung dieser beiden Kräfte. Solche entgegengesetzten Reaktionen lösen auch die einfallsreichen «Junggesellenmaschinen» von Adrian aus. Einerseits erzeugen sie das Verlangen, das weibliche und verweiblichte Körperteile – nämlich diejenigen, die am engsten mit der banalisierten erotischen Vorstellungswelt verknüpft sind – beim gewöhnlichen Konsumenten (und nicht nur) auslösen. Andererseits weisen sie jeden sinnlichen Genuss zurück, indem ein schauderhaftes und ungeheures Bestiarium in die Kompositionen eingefügt und mit langen und (für diejenigen ohne Deutschkenntnisse) unverständlichen Texten von religiösem oder blasphemischem Inhalt oder mit Ideogrammen und Piktogrammen von mysteriöser Bedeutung in Verbindung gebracht wird. Wozu dient dieser ganze Apparat mit seiner konfusen und hybriden visuellen Kommunikation? Auf den ersten Blick – oder ohne vertiefte Auseinandersetzung – zu nichts. Es sind nutzlose und entropische Maschinen, deren Betrieb keinen anderen Zweck und kein anderes Ziel verfolgt, als die Fantasie anzuregen und Energie zu verschwenden.

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    Von Nahem besehen versteckt sich dahinter jedoch eine tiefere Ebene, welche die hermeneutischen Ambitionen schöngeistiger und scharfer Denker befriedigen. Diesen Anspruch stellt Adrian mit überspitzter Kohärenz immer wieder im Titel seiner Werke. Ein vielsagend auf lateinisch formulierter Titel: Codex eroticus. Während der moderne Begriff «Code» allgemein auf ein System von Zeichen und Symbolen verweist, wird der alte Begriff «Codex» (der an alte Schriften oder umfangreiche Gesetzessammlungen erinnert) mit mehr Seriosität, Ordnung und Ansehen in Verbindung gebracht. «Codex» wurde auch die Fussfessel genannt, die den Sklaven zur Bestrafung angelegt wurde. Hier scheinen tatsächlich alle Figuren durch ätherische, aber steife und robuste Fäden, die bei der unnützen und unablässigen Bewegung der Junggesellenmaschinen durch aufgehängte Rollen verlaufen, erotisch miteinander verbunden zu sein. Diese monströsen Figuren sind jedoch vor allem in den bizarren und grotesken Figuren gefangen, welche sie definieren und die sehr der Fauna fantastischer Kreaturen ähneln, welche Europa zwischen dem 14. und 16. Jahrhundert eroberten: Skelette, geflügelte und vielgestaltige Raubtiere, Fabelwesen, tierische Anhängsel anthropomorpher Formen oder umgekehrt, menschliche Körperteile an Wildtieren oder gotische Grotesken, das heisst, mutierte, fantastische und mythologische Monster, auch aus der islamischen und östlichen Welt. Eine Fauna, die modellhaft von Hieronymus Bosch gemalt und von Jurgis Baltrusiatis in «Das phantastische Mittelalter» (1955) beschrieben wurde. Eine ganze Konstellation von hybridisierten, entfernten Kulturen entliehenen Symbolen und Bildern, die in die europäische gotische Tradition Einzug fanden, bevor sie von der modernen, wissenschaftlichen, humanistischen und Renaissance-Kultur wieder verdrängt wurden.

Heute erleben wir die umgekehrte Entwicklung: Die Moderne wurde zur Postmoderne, zu einer verkehrten, verdrehten und entweihten Welt, in der Halbwahrheiten, zusammenhanglose Nennungen, der verlorene Fortschrittsglaube, die Sublimation des Mysteriums und des unmittelbar hervorgerufenen und wieder entglittenen Genusses überhandgenommen haben. Und so kehren auch die Fantasiegebilde der Vergangenheit zurück und vereinen sich mit denjenigen der heutigen Konsumwelt. Das Ergebnis ist ein neues Bestiarium, das ein neues geistiges Mittelalter widerspiegelt. Ein Mittelalter, das in vulgäre und himmlische Bilder, obszöne und heilige Texte, Register von Hoch- und Niedrigkultur bar jeder Sinnes-, Werte- und Würdehierarchie zersplittert und verseucht wird. So erscheint in diesen Bildern nebst der Renaissance-Madonna mit Kind die ganze Pop-Subkultur der Comics, vom alten Disney-Mainstream mit Micky Mouse und Donald Duck bis zur Untergrund-BDSM-Kultur – die von der Auslese sexueller Instrumente wie Netzstrümpfe und Hig  Heels laufend zitiert wird – und zur wilden Anhäufung von Dämonen, Spinnen, Totenschädeln, prähistorischen Fischen, Phalli und Kreuzen.

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    In der Darstellung der «gotischen Grotesken» hatte die Verpflanzung von Köpfen auf den Bauch oder den Hintern anthropomorpher Kreaturen nach Ansicht gewisser Kritiker einen moralisierenden Anspruch. Sie symbolisierte die Verlagerung der Intelligenz, die im Dienste der niedrigsten Instinkte entwürdigt wurde. Aber die gotischen Grotesken von Adrian sind in «Junggesellenmaschinen» gefangen. Somit vereinen sie sich nicht und erzeugen auch nichts, weder Bedeutung noch Moral, ausser den Versuch, Energie abzulassen und von unserem Körper in die Aussenwelt zu verlagern. Jene Energie, die notwendig ist für das Verständnis, dass das Licht der Aussenwelt ausgegangen ist und dass wir in die Finsternis zurückgefallen sind. Erloschen ist das Licht einer Welt, die von der Wissenschaft und dem erneuerten fideistischen Rückfluss in die strahlenden Religionen – wie Ökologie und New Age – erhellt wurde.

 

Es ist Nacht, wo nur noch die Sterne leuchten.

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Mauro Papa

Direktor Polo culturale Le Clarisse

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